Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
(Lukas 6,36)
Barmherzig sein – sich erbarmen: In unserem Alltag kommen diese Worte kaum mehr vor. Die Bibel bewahrt sie weiterhin für uns auf als kostbaren Schatz.
Barmherzig sein – sich erbarmen: Das sind wunderschöne Worte! Sie stammen – so belehrt uns das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache – aus der gotischen Kirchensprache. Und die wiederum hat sie umgebildet aus den althochdeutschen Wörtern „ab-armen“ – „von Not befreien“ und „armherzig“ sein – „ein Herz für die Armen haben“. Wer barmherzig ist, kann gar nicht anders, als unmittelbar etwas zu tun. Der Impuls des Herzens fließt direkt in die Hände und Füße. Wer sich erbarmt, leistet spontan praktische Hilfe.
Friedrich Nietzsche lässt seinen Zarathustra abfällig sagen:
Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleid; zu sehr gebricht es ihnen an Scham. … Denn dass ich den Leidenden leiden sah, dessen schämte ich mich um seiner Scham willen; und als ich ihm half, da verging ich mich hart an seinem Stolze.
(Aus: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
Viele haben Barmherzigkeit in diesem Verdacht, und bisweilen mag sie tatsächlich so daherkommen: Als Mitleid, das sich von oben herabbeugt und mehr kränkt als tröstet. Wer will Erbarmen, wenn es ein Almosen ist?
Wer will Barmherzigkeit, wenn sie der Münze gleicht, die wir dem Bettler mit herablassender Gebärde in den Hut werfen?
Solches Erbarmen, solche mitleidige Barmherzigkeit vergehen sich tatsächlich hart am Stolz des andern und achten dessen oder deren Würde gering.
Wilhelm Busch beschreibt in seiner unnachahmlichen Weise noch eine weitere, höchst subtile Facette der Barmherzigkeit, von der sich wohl niemand so ganz freisprechen kann:
Wenn mir mal ein Malheur passiert,
ich weiß, so bist du sehr gerührt,
du denkst, es wäre doch fatal,
passierte dir das auch einmal.
Doch weil das böse Schmerzensding
zum Glück an dir vorüberging,
so ist die Sache andrerseits
für dich nicht ohne allen Reiz.
Du merkst, dass die Bedaurerei
so eine Art von Wonne sei.
(Wilhelm Busch)
Beide Zitate zeigen: So wunderschön die Worte sind – so schillernd können sie sein.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36)
Die diesjährige Jahreslosung hat weder die generöse Herablassung der Almosenspender im Blick – noch die Häme derer, die von Unbill verschont blieben.
In der Bibel sind Barmherzigkeit und Erbarmen zunächst gar keine menschlichen Tugenden oder Haltungen oder Eigenschaften.
Auch markieren sie nicht primär eine Forderung Gottes an uns.
Ihr Subjekt ist zuallererst Gott selbst:
Der HERR ist barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue.
(2. Mose 34,6 und viele Parallelen)
Gott seinerseits ist barmherzig mit uns.
Daraus folgt alles andere.
Gott steht in Not zu uns, öffnet uns sein Herz, ist ansprechbar für meine kleinen Kummer und meinen großen Jammer, führt mich hinaus aus bedrückender Enge in verheißungsvolle Weite.
Wer das erfährt, mag solche Erfahrung an andere Menschen weitergeben – dankbar und selbst gestärkt.
Wer das erlebt, mag barmherzig werden und sich anderer erbarmen.
„Ist Gott nicht auch barmherzig?“, lautet die Frage 11 des Heidelberger Katechismus. Das verblüfft.„Was heißt hier `auch`?“, möchte man zurückfragen. Und ahnt zugleich:Der Heidelberger macht ernst mit unserer menschlichen Erfahrung.Gott ist nicht barmherzig „von Beruf“.
Vielmehr will uns manchmal scheinen, er sei ohne Augen, ohne Ohren, ohne Mitgefühl. Im Jahr 2020, das hinter uns liegt, haben viele nach Gott gefragt. Öffentlicher und lauter haben sie nach Gott gefragt als in den Jahren zuvor. Und konnten sich keinen Reim darauf machen, wie ihr Erleben während der Pandemie und die Liebe Gottes zusammenpassen.
Vielleicht liegt darin sogar eine ungeahnte Frucht der vergangenen Monate mit ihren Einschränkungen und Ängsten: Gott ist intensiv ins Gerede gekommen. Die Frage nach ihm kam mit neuer Wucht ins Spiel. Und unsere schöne und schwere Aufgabe als Christinnen und Christen ist es nun umso mehr, von Gott zu reden. Nicht, indem wir schnelle und leicht-fertige Antworten geben. Nicht, indem wir Gott zu erklären versuchen oder ihn aus manchem Geschehen wegerklären.
Die Frage nach Gott wachzuhalten; gemeinsam um Gottvertrauen zu ringen, jeden Tag neu: Das ist es, was die Welt von uns braucht und erwartet. Mehr nicht. Und nicht weniger.
Es ist schwer, mit anderen nicht nur den Glauben und manche Gewissheit zu teilen, sondern auch den Schmerz an Gott zuzulassen und zur Sprache zu bringen.
Und: Es kann überraschend befreiend und tröstlich sein. Für uns selbst wie für andere.
Gott ist ja offensichtlich nicht der allzeit „liebe Gott“, der in indifferenter Harmlosigkeit seine Güte über alles und alle ausschüttet. Wir erfahren auch den verborgenen Gott, den wir nicht begreifen. Den zornigen Gott, der Unrecht Unrecht nennt. Den strengen Gott, der sich uns mahnend in den Weg stellt.
Ob das die andere Seite der Barmherzigkeit ist, ohne die Barmherzigkeit nicht barmherzig wäre?
Es ist sicher,
dass wir schneller fahren,
höher fliegen und weiter sehen können
als die Menschen früherer Zeiten.
Es ist sicher,
dass wir mehr abrufbares Wissen zur Verfügung haben
als jemals Menschen vor uns.
Es ist sicher, dass Gott sein Wort niemals zu einer besser genährten,
gekleideten und bessergestellten Gemeinde sprach.
Nicht sicher ist, wie wir bestehen werden vor seinem Blick.
Vielleicht haben wir mehr Barmherzigkeit nötig als alle, die vor uns waren.
(Lothar Zenetti)
Ja, ich hoffe für mich auf Barmherzigkeit.
Nicht zuletzt im Rückblick auf ein Jahr, in dem so viele, die unsere Barmherzigkeit bitter nötig gebraucht hätten, an den Rand des öffentlichen Interesses oder ganz aus dem Blick geraten sind. Auch aus meinem Blick. Die Pandemie hat unsere Perspektive auf erschreckende Weise enggeführt. Über Monate hinweg schien es nur eine einzige Gefahr zu geben, der unsere gesammelte Aufmerksamkeit galt.
Wer mag währenddessen unser Erbarmen vermisst haben – ganz in der Nähe und in der weiten Welt? Wem bin ich selbst Barmherzigkeit schuldig geblieben im steten Kreisen um Abstand-Halten, Hygiene-Maßnahmen und Alltagsmasken?
„Denn sein Zorn währet einen Augenblick, und lebenslang seine Gnade“, heißt es im 30. Psalm (Psalm 30,6).
Gottes Ja ist größer als sein Nein: Dafür steht Jesus Christus mit seinem Leben und Sterben – und seinem Auferwecktsein aus dem Tod. Gott sagt Ja – sogar durch Sterben und Tod hindurch: Von diesem Überschuss der göttlichen Gnade leben wir. Im besten Fall macht dieser Überschuss der göttlichen Gnade uns barmherzig mit anderen, womöglich sogar barmherzig mit uns selbst. Und weitet unseren persönlichen und öffentlichen Blick im neuen Jahr endlich wieder über den Bannkreis eines tückischen Virus´ hinaus.
Dr.h.c. Annette Kurschus,
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen